Wie viele hier wahrscheinlich nachempfinden können im Deutschland der 1980er-Jahre aufzuwachsen und zur Schule zu gehen, bedeutete, dass das Dritte Reich eine prägende Rolle spielte.
Ich wuchs mit einem ungeheuren Schuldgefühl und fassungslos auf: Wie hatte die Generation meiner Großeltern solche Gräueltäten in einem noch nie dagewesenen, unmenschlichen Maßstab begehen können? Wenn die Schätzungen korrekt waren (Dass bei dem in Auftrag gegebenen Massenmord 300.000 Deutsche und Österreicher aktiv mitwirkten, allein 40.000 davon als Aufseher in den Lagern), konnte keine Familie von der nachweislichen Schuld, an diesem unermesslichen Schrecken mitgewirkt zu haben, freigesprochen werden, auch wenn relativ wenige dieser Verbrecher schließlich bestraft wurden.
Die Generation meiner Eltern war zu sehr mit dem Wiederaufbau beschäftigt, um eingehend darüber nachzudenken, wie so etwas passieren konnte. Ihr fehlte die Distanz und eine Perspektive, um diesen erdrückenden Tatsachen ins Auge zu sehen. So waren meine Altersgenossen und ich die wohl erste Generation, der die vollen Auswirkungen dessen bewusst wurden, was unsere Landsleute getan hatten. Und das bedeutete, zu erkennen, dass wir in einem Land der Täter aufwuchsen, in dem sich nur wenige Helden ausmachen ließen. (Das war auch der Grund, warum die Geschwister Scholl, Bonhoeffer und von Stauffenberg für uns so wichtig waren.) Das bedeutete auch eine ständige Auseinandersetzung mit dem fragwürdigen Gedankenexperiment, ob wir anders reagiert hätten als unsere Großeltern – hätten wir die Situation verstanden und den finsteren Kräften die Stirn geboten, die unser Land in diese Katastrophe trieben?
Natürlich ist es unmöglich und vielleicht auch unproduktiv, auf diese Weise in der Geschichte und der Zeit zurückzuspringen. Dennoch scheint es mir eine Überlegung der Verantwortung, insbesondere in einer Zeit, in der der Antisemitismus, die Verzerrung von Fakten über den Holocaust und dessen Leugnung in so vielen Ländern trotz des Bewusstseins für Recht und Anstand wieder erstarken. Und deshalb glaube ich, dass es meine berufliche und persönliche Pflicht ist, nicht nur weiterhin über die Vergangenheit nachzudenken und aus ihr zu lernen, sondern wo immer es mir möglich ist auch dazu beizutragen, dass man sich erinnert.
Eines Tages traf ich Kai Diekmann und wir hatten die Idee zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz 75 Überlebende zu fotografieren. Yad Vashem in Jerusalem war der perfekte Ort.
Die Treffen und das Zusammensein mit diesen Frauen und Männern, von denen ich Geschichten hörte, denen ich zuvor nur in den Geschichtsbüchern meiner Kindheit begegnet war, haben mich zutiefst gerührt und verändert. Ohne Zweifel war es die Erfahrung meiner beruflichen Laufbahn, die mich emotional am stärksten beschäftigt und bereichert hat. Diese Geschichten von unglaublichem Durchhaltevermögen zu hören und zu erkennen, auf welche Weise diese Überlebenden Toleranz und Verständnis predigen, gibt einem das Gefühl, dass sich die Menschenliebe behauptet. Ich hoffe, diese grundlegende Lektion mit dieser Ausstellung weiterzugeben.
Ich will mich bei Yad Vashem Hilfe bedanken, sie haben die Plattform geschaffen, um dieses Projekt zu verwirklichen. Die RAG hat diese Ausstellung und den Film finanziell unterstützt. Anke hat dieses Projekt von Anfang an produziert und ist heute auch hier. Vielen Dank.
Ich kann den Überlebenden nicht genug danken, ihr Vertrauen und die Bereitschaft sich von mir fotografieren zu lass weiß ich sehr zu schätzen.
Martin Schoeller
Der Fotograf Martin Schoeller in der Ausstellung SURVIVORS im Zollverein
© Jochen Tack / Stiftung Zollverein
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